Schlagwort: Russland

Ein Augenzeugenbericht aus der Ukraine

Ukraine Krieg

Der Mensch gewöhnt sich an Schrecken und Krieg, vor allem wenn er nicht vor der eigenen Haustür stattfindet. Da Wahrheit und Dichtung in Kriegszeiten schnell ineinander übergehen können, ist es gut, wenn man einen unverfälschten Live-Bericht von Augenzeugen bekommt.

Der nachfolgende Bericht, der auf einer der letzten Mittwochs-Mahnwachen veröffentlicht wurde, hat nun die Redaktion erreicht. Die Original-Version in Englisch ist unten angefügt…


Wir sind eine Familie aus Charkiw, einer Stadt in der Ostukraine, 35 km von der russischen Grenze entfernt. Eine Stadt, die als eine der ersten von der sogenannten „Russischen Befreiung“ betroffen war. Am 24. Februar um 4:45 Uhr morgens weckten uns Explosionen und ein schreckliches Geräusch, das wie eine anrollende Tsunami-Welle klang – das war der Beschuss durch „Grad“-Systeme (Raketenwerfer). Unser Stadtteil ist eine sogenannte Schlafstadt – hier gibt es nur Wohngebäude, Parks, Gärten, Schulen, Kindergärten und Einkaufszentren, keine Fabrikbetriebe, keine Militär- oder Industrieanlagen. Das Entsetzliche an diesem Tag war, dass der russische Beschuss in diesen Wohnvierteln anfing.

Die Granaten fielen 0,5 bis 1 Kilometer von unseren Häusern entfernt. Die ersten Opfer starben – Menschen, die versuchten, in ihren Autos wegzufahren, Menschen, die versuchten, Schutzräume zu erreichen. Auch unsere Familie musste sich in den Kellern von Häusern und Kindergärten verstecken. Niemand hatte mit dem Ausbruch des Krieges gerechnet – weder Erwachsene noch Kinder oder ältere Menschen.

Wir blieben wochenlang in den Kellern, schliefen in unseren Kleidern und versuchten, die Kinder zu beruhigen. Gelegentlich verließen die Männer die Unterkünfte und versuchten, irgendwo Lebensmittel aufzutreiben. Dafür mussten sie oft Schlange stehen, wo sie unter Beschuss kamen. Immer mehr Häuser wurden zerstört, es gab immer mehr Opfer und es wurde immer unheimlicher, in unseren Kellern zu bleiben. Auf den Straßen, ein paar Kilometer von unserem Haus entfernt, standen bereits ausgebrannte russische Panzer.

Zu Tausenden begannen die Bewohner von Charkiw, die Stadt zu verlassen. Wir wussten, dass es sehr gefährlich war, in der Stadt zu bleiben. Unter Tränen und mit wehem Herzen diskutierten wir zwei Tage lang darüber, ob auch wir unser Zuhause verlassen und zu Freunden im Westen der Ukraine fliehen sollten.

Der 2. März 2022 ist ein Tag, den unsere Familie lange nicht vergessen wird. Es ist der Tag, an dem wir Charkiw verließen. Am Abend zuvor wurden wir von den „Uragan“-Systemen und von den Flugzeugen der Invasoren beschossen, was die Wände unserer Häuser erzittern ließ. Als wir am Morgen zum Bahnhof kamen, sahen wir Tausende von Menschen, die versuchten, sich in einen Zug zu quetschen. Überall herrschte Panik, Gedränge und Angst. Kinder, ältere Menschen und Haustiere, die die Menschen ebenfalls zu retten versuchten. Alle versuchten verzweifelt, in die überfüllten Züge zu kommen. Solche Szenen hatten wir in Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg gesehen. Am 2. März 2022 sahen wir das alles wieder. Niemand hatte mit dem Ausbruch des Krieges gerechnet.

Wir konnten weder in den ersten, noch in den zweiten oder dritten Zug einsteigen. Die ganze Zeit waren wir, Frauen und Kinder, auf dem Bahnhof, im Regen, der in Schnee überging, dann wieder zu Regen wurde. Manchmal wurden wir beschossen und rannten, um Schutz zu suchen, dann wieder zurück in Regen und Schnee, um auf den nächsten Zug zu warten. Wir versuchten, die Kinder mit den nassen Decken warm zu halten. Das klingt wie ein surrealistisches Bild. Ein furchtbarer Traum, aus dem man so schnell wie möglich aufwachen möchte.

Wir beteten zu Gott und er erhörte uns. Wir stiegen in den letzten Zug an diesem Tag. Um 3:00 Uhr nachts, durchgefroren und todmüde, fuhren wir mit Hunderten von Menschen in einem überfüllten Zug los, verließen unsere Stadt, unsere Häuser, unsere Ehemänner und Brüder, die in Charkiw geblieben waren. Wir hatten Glück. Unsere Freunde halfen uns zu fliehen, zuerst in den Westen der Ukraine, dann hierher, nach Deutschland. Auf unserem Weg trafen wir viele Freiwillige und nette, fürsorgliche Menschen, die uns halfen und auch jetzt noch helfen. Wir sind ihnen allen sehr dankbar. Aber jeden Tag, jede Minute denken wir an die Ukraine. An unsere Stadt Charkiw, an unseren knappen Sieg über den russischen Faschismus.

 

Originaltext

We are a family from Kharkiv, a city in the east of Ukraine, 35 km from the border with Russia. A city that was one of the first to suffer from the so-called „Russian liberation“. On February 24, at 4:45 in the morning we all woke up from the explosions and from a terrible noise that was like an impending tsunami wave – this was shelling by „Grad“ systems. The district where we lived is called „sleeping“ – it has only residential buildings, parks, garden squares, schools, kindergartens, shopping centers. No factories, military or industrial facilities. A horror of that day was that the Russian shelling started from these residential districts.

The shells were falling 0.5 – 1 kilometer from our houses. First victims died – people who tried to leave in their cars, people who were trying to reach shelters. Our family also had to hide in the basements of houses, kindergartens. No one was expecting the war to start – adults, children, and elderly.

For weeks we stayed in the basements, slept in our outdoor clothes, were trying to calm the children. Men occasionally went out of the shelters, trying to acquire foodstuff anywhere. For that, they had to stand in the long queues under shellings. More and more houses were destroyed, there were more and more victims, and it became scarier and scarier to stay in our basements. On the streets, a couple of kilometers from our home, there already were burned Russian tanks.

Thousands of Kharkiv inhabitants started to leave their city. We understood that staying in the city is very dangerous. For two days we, with a pain in our hearts, filled with tears, were discussing the decision to leave our homes and escape to the west of Ukraine to our friends.

2 March 2022 is a day our family will not be able to forget for a long time. It is the day of our evacuation from Kharkiv. The evening before it, we were shelled by the „Uragan“ systems and by the aviation of the invaders, which made the walls of our houses tremble. In the morning when we came to the train station, we saw thousands of people attempting to board the train. Panic, crowding, and fear were everywhere around. Children, elderly, and pets who people also were trying to save. People tried to fit in the overcrowded trains. We have seen all this before in the documentaries about the Second World War. Then on 2 March 2022, we saw it all again. No one was expecting the war to start.

We could not get into the first, then second and third train. All this time we: women and children, were on the station, under the rain that changed to snow, then back to rain. Sometimes the shelling would start and we ran under a cover, then again back under rain and snow to wait for the next train, trying to wrap the children into already wet blankets to warm them up. This seems a surrealistic picture. Some kind of a scary dream you want to wake up from as soon as possible.

We prayed to God and he heard us. We got into the last train that day. At 3.00 in the night, frozen tired, with hundreds of people like us, we left in an overcrowded train, leaving our city, our homes, our husbands and brothers who stayed in Kharkiv. We got lucky. Our friends helped us to leave – first to the west of Ukraine, then here, to Germany. We met on our way many volunteers and just kind, caring people who were helping us, and continue to help now. We are grateful to all of them. But every day, every minute we are thinking of Ukraine. Of our city Kharkiv, of our close victory over the Russian fascism.


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