Mit der U2 durch Frankfurt. Ein Text von Lily Gaines.
Die U2 verbindet Stadtteile, aber auch Menschen und ihre Geschichten. Sie zeigt, wie eng Mobilität und Gemeinschaft miteinander verwoben sind. Sie ist ein öffentlicher Raum, der sich bewegt, um andere zu bewegen. Rund 57.000 Menschen sind an einem durchschnittlichen Werktag mit ihr unterwegs. Die U2 ist ein Symbol für den Wandel der Zeit und bewegt sich fortwährend zwischen Gegenwart und Vergangenheit. An vielen ihrer Stationen überschneidet sich Historisches mit dem Alltag der Frankfurterinnen und Frankfurter.
Frankfurt hat viele Gesichter. Hier werden dicht an dicht Gegensätze gelebt. Wer Frankfurts Facettenreichtum hautnah erleben möchte, braucht dafür keinen prall gefüllten Geldbeutel. Es genügt ein VGF-Tagesticket, etwas Neugierde und ein gesundes Maß an Offenheit, sich auf die unterschiedlichen Orte und Menschen einzulassen, die einem begegnen. Als eine der ältesten U-Bahn-Linien der Stadt verbindet die U2 im Minutentakt Frankfurts unterschiedliche Facetten. Einfach zurücklehnen und sich fahren lassen: 35,1 Kilometer binnen 32 Minuten, vom Südbahnhof bis nach Bad Homburg Gonzenheim. 21 Stationen, zwischen denen Welten liegen.
Von Süd nach Nord durch Frankfurts Vielfalt
Südbahnhof, zwischen Gedenktafel und Wochenmarkt: Auf dem kopfsteingepflasterten Bahnhofsvorplatz riecht es nach frischen Kräutern und Handkäs. Sachsenhausen ist eines der belebtesten Viertel der Stadt, das für seine urigen Apfelweinlokale, historischen Fachwerkhäuser, engen Gassen und charmanten Altbauwohnungen bekannt ist. Zugleich sind hier etliche Ausstellungshäuser entlang des Museumsufers angesiedelt, die Kulturbegeisterte aus der ganzen Welt anziehen. Durch das rege Treiben zwischen den Marktständen und Straßenbahngleisen gelangt man zum Haupteingang des 1873 eröffneten „Bebraer Bahnhofs“, der seit 1909 „Frankfurt a. M. Süd“ heißt und nach Ende des Zweiten Weltkriegs kurzfristig als „Frankfurt South“ ausgeschildert war. Rechts neben dem Eingang erinnert eine Gedenktafel an die 3155 Juden, die in den Novemberpogromen 1938 von hier aus in das Konzentrationslager Buchenwald und nach Dachau deportiert wurden. Die unauffällig in das Gemäuer eingelassene Tafel scheint still und beharrlich darauf bedacht, einem Vergessen entgegenzuwirken, während die vielen Menschen an ihr vorüber eilen und ihren Alltag leben. Sie ist auch Beleg dafür, wie sehr jüdisches Leben zu Frankfurt gehört. Durch eine hölzerne Tür betritt man die in Grüntönen geflieste Bahnhofshalle. Eine Rolltreppe führt zu den Gleisen, der Untergrund erwartet die Passagiere in Senfgelb. Dazwischen historische Schwarzweißfotografien wie unter anderem eine Aufnahme des alten Südbahnhofs. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen, während die U2 einfährt.
Wenige Minuten später ein flüchtiges Rendezvous mit Frankfurts betuchter dribbdebacher Dame: der Schweizer Straße. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verkehrte hier noch eine Pferde- und Waldbahn statt der Straßen- und U-Bahn, aber die vielen spätklassizistischen Prachtbauten reihen sich hier nach wie vor wie an einer Perlenkette auf. Unter Platanen flaniert man zu Delikatessengeschäften oder für einen Cappuccino zum Schweizer Platz, der nach Pariser Vorbild entstand. Bahntechnisch betrachtet befindet man sich aus zweierlei Gründen besonders tief unten: Zum einen ist die Station Schweizer Platz nicht nur eine von insgesamt zwei Stationen, die unter einem Häuserblock statt einer Straße gelegen sind. Zum anderen unterquert die U-Bahn nur von hier aus auch gleich den Main und wechselt das Flussufer. Von Dribbdebach nach Hibbdebach, ohne es zu merken.
Am Willy zeigen sich die Gegensätze, die Frankfurt zusammenhalten
Willy zwischen Goldwolken, Märchenbrunnen und Euro-Skulptur: Am anderen Ufer angelangt, stattet die U2 dem Willy, wie Frankfurterinnen und Frankfurter den Willy-Brandt-Platz nennen, einen Besuch ab. Drei ganz unterschiedliche Gesichter der Stadt zeigen sich hier: Ein Aufeinandertreffen von Bankenviertel, Bahnhofsviertel und Innenstadt. Auf dem Platz betrachten sich argwöhnisch der Märchenbrunnen, ein Jugendstilbrunnen von 1910, die „Goldwolken“ an der Decke des verglasten Schauspiel-Foyers, ein Kunstwerk Frankfurter Nachkriegsgeschichte, und die mächtige Euro-Skulptur, die 2001 vor der ehemaligen Europäischen Zentralbank errichtet wurde. Das Trio teilt sich einen Platz, ohne, dass die Skulpturen etwas gemeinsam hätten. Eingerahmt von glitzernden Wolkenkratzerfassaden offenbart sich hier Frankfurts modernes, internationales Gesicht. Die Finanzwelt und die Dynamik der Großstadt sind allgegenwärtig. Gleichzeitig eröffnet sich vom Willy ein Blick in die Münchener Straße des bunten und vielfältigen Bahnhofsviertels. Nirgends in der Stadt verbinden sich so viele Gegensätze wie in diesem Viertel. Menschen aus mehr als 180 Nationen leben hier auf engstem Raum.
An der Hauptwache strömen Menschenmassen, beladen mit Einkaufstüten, über die Zeil – Frankfurts größter Einkaufsmeile. Aber auch Skaterinnen und Skater haben diesen Platz für sich erobert. Und nur wenige Gehminuten von der Hauptwache entfernt befindet sich die historische Altstadt mit dem Römerberg, der Paulskirche und dem Kaiserdom. Auch hier zeigt sich der Kontrast zwischen Tradition und Moderne besonders eindrücklich. Ein unscheinbares barockes Wachgebäude seitlich des Platzes ist Namensgeber der Station. Der ehemalige Sitz der Stadtwehr diente auch als Gefängnis und ist heute ein Café.
Die Hauptwache wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und nach dem Bau des unterirdischen Bahnhofs 1968 originalgetreu wiederaufgebaut. Heute befindet sich hier das sogenannte „Loch“, eine große Öffnung im Boden, die in eine unterirdische Einkaufspassage und zu den Schnellbahnhöfen führt: Ein trichterförmiger Treppenabgang, dessen Architektur von 1968 nicht weniger aus der Zeit gefallen zu sein scheint wie die kleine historische Wache. Nebeneinander ergeben sie ein fast surreales Bild. Welches neue Gesicht dem „Loch“ und einer Hauptwache der Zukunft am besten steht, diskutieren aktuell Bürgerinnen und Bürger in einem Bürgerbeteiligungsprozess des Stadtplanungsamts zur Umgestaltung der Hauptwache.
Ein Turm behauptet sich als zeitloses Wahrzeichen
Durch die verschachtelten Gänge der Station Eschenheimer Tor bahnen sich Passantinnen und Passanten ihren Weg nach oben. Ein Obdachloser schläft unter einer Rolltreppe, eine Decke über den Kopf gezogen, so dass nur seine Umrisse zu erkennen sind. In eisigen Winternächten dient die B-Ebene der U-Bahn-Station Eschenheimer Tor als Notunterkunft für obdachlose Menschen mit bis zu 200 Notübernachtungsplätzen, getragen von der Stadt und dem Verein „Frankfurter Verein für soziale Heimstätten“. Oben angelangt, eröffnet sich eine große Straßenkreuzung, aber auch viel Grün zu beiden Seiten, wo die Stadtgrenze einst verlief. Der Eschenheimer Turm, als ein Teil von ihr, steht noch heute – auch wenn er im architektonischen Wandel der Zeit etwas verloren wirkt zwischen den ihn überragenden Wolkenkratzern und Hotels – seine fünf in den Himmel ragenden Turmspitzen behaupten sich jedoch wacker als zeitloses Wahrzeichen der Stadt.
Zurück in der U2, an das blaugrün gemusterte Sitzpolster gelehnt, ziehen der Grüneburgweg und das Holzhausenviertel vorbei. Studierende steigen ein und aus, es wird kurz sehr eng. Auch die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre verschiebt sich hier: Wo, wenn nicht im Vierer, sitzt man unwillkürlich Fremden gegenüber, so nah, dass sich beinahe die Knie berühren? Jedoch naht alsbald sprichwörtlich Licht am Ende des Tunnels: Von der Station Miquel-Adickes-Allee/Polizeipräsidium hin zur Station Dornbusch wird die U2 überirdisch. Streng genommen ist sie also gar keine U-Bahn, denn sie trägt sowohl ein unterirdisches als auch ein überirdisches Gesicht. Man sieht noch die Ausläufer des Polizeipräsidiums an sich vorbeizischen, bis die Bahn langsamer wird, Reihenhäuser und viele kleine Einzelhandelsgeschäfte säumen nun die Seiten der Gleise. Das Gebiet um die heutige Bahnstation Dornbusch lag im Mittelalter an der Via Regia, die zum Straßennetz des Römischen Reichs gehörte und Brachland war, auf dem lediglich struppige Dornenbüsche wuchsen. Heute befindet sich hier das Dichterviertel, in dem statt dornigem Gestrüpp pompöse Villen stehen und die Straßen Namen mehr oder weniger großer Dichter tragen. Entlang der Stationen Fritz-Tarnow-Straße, Hügelstraße, Lindenbaum und Weißer Stein ebbt die Hektik der Innenstadt merklich ab. Geschäfte weichen Wohnvierteln und ein Gefühl der Entschleunigung wird spürbar. Es lichtet sich, so als würde die U2 zwischen verschiedenen Zeitzonen innerhalb derselben Stadt wechseln.
Frankfurt ist ein Dorf – nur einige Stationen entfernt
Der Riedberg dagegen, eine der nächsten Stationen, ist ein noch sehr junger Stadtteil, hier wirkt alles neu, beinahe steril, zwischen den glatten Fassaden der Neubausiedlungen und gepflegten Grünflächen. Hier wächst ein Frankfurt der Zukunft, das als eine moderne Antwort auf das Bevölkerungswachstum und die Wohnungsnot im Stadtkern dienen soll. Auch der naturwissenschaftliche Uni-Campus hat hier ein neues Zuhause gefunden.
Die Urbanität löst sich langsam auf, das Tempo nimmt ab, die Luft wird klarer. Kalbach begrüßt die Fahrgäste am Stadtrand: Weite Felder, alte Bauernhäuser und eine Idylle, die man in so unmittelbarer Nähe zur Großstadt nicht vermuten würde. Die pulsierende Mainmetropole wirkt hier beinahe wie eine ferne Erinnerung, auch wenn ihr Zentrum lediglich einige wenige Stationen entfernt liegt. Hier lässt sich dem hektischen Treiben der Innenstadt entfliehen, ohne auf die Vorzüge der Urbanität verzichten zu müssen – auch dank der U2, die diese unterschiedlichen Lebenswelten verbindet – nur einen Steinwurf von der gemächlich mäandernden Nidda entfernt.
Auch die Station Nieder-Eschbach hat eine Entwicklung vom Dorf zum Stadtteil hinter sich: Der Ort ist viel älter als Frankfurt und wurde erst 1972 eingemeindet. Hier überlagert sich das dörfliche Flair im Zentrum des Stadtteils mit der Expansion des Gewerbegebiets, das 2003 weitläufig ausgebaut wurde und dem Stadtteil zu mehr wirtschaftlicher Bedeutung verhelfen konnte. Nieder-Eschbachs rurale Vergangenheit ist in den vielen Grünflächen und Feldern rund um den Stadtteil jedoch immer noch spürbar. Auch der Ben-Gurion-Ring symbolisiert den Wandel Nieder-Eschbachs und zeigt, wie städtische Entwicklungen die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen beeinflussen. Etwa 80 Wohngebäude aus den 1970er Jahren bilden die Siedlung, die sich zum Teil auf Bonameser Gebiet befindet. In insgesamt 1.350 Wohnungen leben hier circa 6.000 Menschen aus rund 50 Nationen.
Schließlich das Tor zum Taunus: Endstation der U2 ist ein Stadtteil der Kurstadt Bad Homburg und liegt bereits außerhalb der Frankfurter Stadtgrenzen – die beweglich sind, wie die Frankfurter Stadtgeschichte eindrücklich beweist. Diese Station versinnbildlicht den Übergang von der Mainmetropole zu den beschaulichen Orten, die um das Taunusgebirge liegen. Bad Homburg steht im deutlichen Kontrast zu den urbanen Stadtteilen, die die U2 zuvor durchquert hat. Es ist leer geworden an der Endstation, kaum noch ein Mensch ist zu sehen. Der Bahnfahrer steigt aus, raucht eine Zigarette und beißt in ein belegtes Brötchen. Dann steigt er wieder ein. Es wird Zeit, die Stadtteile, Menschen und ihre Geschichten wieder zu verbinden.
Quelle:
https://frankfurt.de/service-und-rathaus/presse/texte-und-kampagnen/features/die-u2
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Nachtrag 14.11.24: In einem Leserbrief, der die Redaktion erreichte, wurde berechtigterweise darauf hingewiesen, dass die U2 regulär nicht über die Stationen Unicampus Riedberg und Riedberg fährt. In der Vergangenheit hat es jedoch Ausnahmen gegeben, in denen die Streckenführung der U2 temporär geändert wurde, da an den Originalstrecken gebaut wurde. Wenn die Autorin zu dieser Zeit ihren Bericht geschrieben hat, sind die widergegebenen Eindrücke durchaus korrekt.
A. Woitun