Letzte Probe vor New York

Alles begann mit einer Nachricht auf Facebook. Im Juni 2014. „Neuer Kurs“ und „Ballett für Erwachsene (Anfänger)“ war dort zu lesen. Vorkenntnisse waren nicht erforderlich. Gladys Weidermanns erster Gedanke damals war: „Klasse, mal ein anderer Bauch-Beine-Po-Kurs, bei dem auch noch die Konzentration gefördert wird!“ Was Gladys und die anderen mutigen Damen vom Riedberg tatsächlich erwartete? Klassisches Ballett. 1. Position, 2. Position, Tendu, Plié. Anfangs fühlten sie sich „so fern von graziler Eleganz wie ein Fisch, der laufen kann“. Sie trainierten im Turnraum einer Kindertagesstätte. Die Fensterbänke waren ihre Ballett-Stangen. Spiegel gab es „zum Glück nicht“. Und jetzt? Bereiten sich 14 Ballettelevinnen zwischen 23 und 44 Jahren auf eine Tanzprüfung an einer der renommiertesten Ballettakademien der Welt vor. Wo? In New York!

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Aufwärmen…

Es ist Sonntag, kurz vor 14 Uhr. In einem Tanzstudio in der Kurfürstenstraße in Bockenheim. Die Haare sind hochgesteckt, das Make-Up ist dezent. Alle tragen schwarze Ballett-Trikots mit weißen Strumpfhosen. Man ist sich gegenseitig dabei behilflich, die Startnummern anzuheften. Auch sonst soll alles so ablaufen wie beim American Ballet Theatre am 28. Oktober. Das ruft Tanzpädagoge Dr. Thom Hecht, der selbst am ABT studierte und jetzt auch als Dozent für den Weiterbildungsstudiengang „Dance Science“ in Frankfurt tätig ist, nochmals in Erinnerung. Das bedeutet: Die Prüfungsfragen und Anweisungen sind Englisch, die Fachbegriffe natürlich Französisch. Choreographie und Ablauf sind strikt durchgeplant. Mindestens 70 von 100 möglichen Prüfungspunkten gilt es zu erreichen.

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Choreographie und Ablauf der Prüfung…

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…sind strikt durchgeplant

Entrée. Assemblée. Pirouetten. Thoms Anweisungen, dass Kopf und führender Fuß in die gleiche Richtung weisen müssen, dass Beine, Hüfte, Knie und Fußgelenke entsprechend der jeweiligen Position gestreckt oder gebeugt sind. Und dazwischen der Frageteil. „Beim Lernen habe ich schon gemerkt, dass ich keine 12 mehr bin“, sagt eine Teilnehmerin in der Pause. Die Tänzerinnen vom Riedberg sind die älteste Gruppe und noch dazu die erste aus dem Ausland, die diese Prüfung an der New Yorker Akademie ablegen will. „Die reifste Gruppe“, wie Thom Hecht später stolz betont. Es ist noch immer ungewöhnlich, wenn Erwachsene „nicht diesen Sport, sondern diese Kunstform“, noch dazu ein internationales Ballett-Abc, erlernen wollen. Es gibt acht Prüfungs-Level. „Ähnlich wie Gürtel in Kampfsportarten.“ Die Damen streben Level 2 an. Ab Level 5 beginnt der Profibereich. Der Tanzpädagoge erläutert: „Die Prüfungskandidaten tanzen die Exercises zu berühmter Ballett- und Opernmusik, dem Habanero aus Carmen, Giselle I. Akt, Don Quixote II. Akt, Schwanensee III. Akt und dem Hochzeitstanz von Dornröschen.“

Sechs Stunden pro Woche haben sie in den letzten Wochen trainiert. Der Respekt der wenigen Zuschauer am Sonntag steigt von Minute zu Minute. Heimlich stellen sie sich vielleicht auch die Frage: Wer investiert hier so viel Energie und Zeit? Anders ausgedrückt: Das ist mehr als bewundernswert – aber wer tut sich so etwas an? Es sind Frauen, die fast alle im Job Verantwortung tragen. Und in der Familie. Sie sind beispielsweise im Finanzsektor tätig oder dem Gesundheitsbereich. Einige sind selbständig. Eine Tänzerin leitet mit ihrem Mann eine Werbe- und eine Filmproduktionsfirma. Beim Ballett tauchen sie voller Konzentration in eine Welt aus Musik und Bewegung ein – und lassen Vieles hinter sich.

Ballett-Experte Thom Hecht spricht vom „escape“, einer kurzen Flucht aus dem Alltag. Den man dann wieder gestärkt bewältigen kann. Etwa wenn man mit größtmöglicher Konzentration einen Punkt in Augenhöhe fixiert, bevor man zur Pirouette ansetzt. Das verhindert übrigens, dass den Tänzerinnen schwindelig wird. Ja, da ist auch noch der athletische Aspekt. Das Plus an Wohlgefühl, wenn der Body infolge von zwei Jahren Training „superstraff wird“. Blutige Zehen, abgebrochene Nägel, reichlich Muskelkater – das scheint schnell vergessen. Da ist auch noch das schöne Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein. Wo sich auch Freundschaften entwickeln.

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Anspannung vor dem Pirouetten-Training…

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…doch gemeinsam sind die Damen stark – auch wenn der Balanceakt zwischen Job, Familie und sechs Stunden Training pro Woche zuletzt schwierig war

Die Flüge sind gebucht. Der Zeitplan steht. Andrea, eine weitere „Teilzeit-Ballerina“ schreibt nach der letzten Probe: „Ich brauche Ersatz für mich! Meine Mutter habe ich bereits vor einem halben Jahr über unsere Reise informiert und sie gefragt, ob sie kommen kann. Sie wird einen Tag, bevor ich verschwinde, anreisen. Zum Glück sind hessische Herbstferien und der Aufwand hält sich in Grenzen.“

Dann gibt es da noch den Job. Es geht es nochmals auf eine kurze Geschäftsreise, auch hier will alles organisiert sein. Andrea listet auf: „Essen vorkochen! Welche Themen liegen im Büro noch auf dem Tisch? Was muss ich im Vorfeld noch erledigen und was kann bis nach meinem Urlaub warten?“

Der Countdown läuft. Nur noch zwei Wochen bis zur Prüfung. Andrea, Gladys und die anderen sind sich aber sicher:

Mädels, das wird klasse…New York, wir kommen!

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Sie wollen mitfiebern und noch mehr erfahren? Dann klicken Sie unbedingt auf den Blog von Teilnehmerin Gladys Weidermann auf https://ballerinablogweb.wordpress.com

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Ein großer Dank geht auch an den passionierten (Hobby-)Fotografen Urs Weidermann, der uns tolle Fotos zur Verfügung stellte, und auch an Carmen Schwarz.

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Apropos Fotos: Hier gibt’s noch einige Impressionen von der letzten Probeprüfung – und sechs Stunden Training pro Woche

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(Text: Claudia Detsch/ Fotos: Urs Weidermann (4), cd (5), Carmen Schwarz)

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